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eine kurze Leseprobe von "Adornos Nachbar" (Erzählung)
Fotos von Volker Blumenthaler, ISBN 978-3-941072-16-9
Seite 22:
Franz fühlte sich Adorno auch in seinem prägenden Glücksgefühl der Kindheit verbunden. Alexander Kluge hat es einmal etwa so gesagt: Adorno lebte nicht in der Erinnerung an das Glück seiner Kindheit. Er spürte den Mangel durch die Abwesenheit eben dieses Glücks. Dessen Abwesenheit wurde aber zu Adornos Antrieb im Leben.
Genau das empfand Franz auch. Er hatte dieses Glück erfahren dürfen, das, so Alexander Kluge, ihm niemand mehr wegnehmen konnte. Auch für ihn wurde es der Ansporn, all das zu tun, was er getan hatte und noch tun würde.
Wenn der Vater seinen Mittagsschlaf hielt und der kleine Franz dabei sein durfte, die ockergelben alten Vorhänge des geöffneten Schlafzimmerfensters im Wind sich leicht bewegten und die Sonne mit Licht- und Schattenspielen auf den Vorhängen tanzte, war der Kleine nicht nur glücklich, nicht allein geborgen bei seinem Vater. Er erlebte in der Beobachtung der Vorhänge etwas, das er später als künstlerische Betrachtungsweise eines Dreijährigen bezeichnete. Als ästhetische Einübung in etwas, das ihn später schreiben und Bilder intensiv betrachten ließ.
Die ockergelben Vorhänge wurden zum Entwurf einer eigenen kleinen Welt, in der er sich geborgen fühlte. Die Vorhänge bildeten eine Landschaft, auf denen der kleine Franz seine Augen spielen ließ, mal mehr dem Schatten, mal mehr dem Licht verpflichtet. Und sein kleines Gehirn versuchte – daran erinnerte sich Franz genau –, die beiden „Kontrahenten“ Licht und Schatten zusammenzudenken, sie als glückliche Einheit zu sehen.
Glückte es ihm, war er zufrieden.
Doch dann war auch schon der Mittagsschlaf des Vaters beendet, und er musste auf den nächsten Tag warten.