Leseprobe: Otto Winzen, Das Champagnerreich

Die Hybris, sich im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser krönen zu lassen!

Die Dummheit, den Franzosen das anzutun!

Bismarck, dem Fuchs, war ein schweres Missgeschick passiert.

Sein Machtinstinkt hatte ihn verlassen.

Er wurde zum kleinen Politiker, der triumphieren will, wo er nicht weiter spalten durfte.

Statt eine Stätte im deutschen Reich mit bildmächtiger Kraft zu wählen, fand die Kaiserproklamation an einem Ort statt, der ein touristisches Ziel ist.

Man kommt doch des Sonnenkönigs wegen!

Wer weiß überhaupt, dass sich Wilhelm I. dort krönen ließ?

Wen interessiert das überhaupt im Zusammenhang mit einem Ort außerhalb Deutschlands?

Er hätte sich auch am Horn von Afrika inthronisieren lassen können oder in Grönland.

Das wenigstens wüsste man, da der Ort so abseitig wäre, dass man es nicht vergäße.

Doch aus dem Gefühl des Triumphes über Frankreich heraus ein geeintes Großreich dort zu installieren, wo allein Frankreichs Vergangenheit zu strahlen hat, ganz gleich, ob berechtigt oder nicht, dümmer geht es kaum. Von den elf Flaschen Champagner, die Bismarck an jenem Tag getrunken haben soll, war jede zu viel.

Er nahm Wilhelm II. vorweg, dessen Hang zum Protz, zur Eitelkeit. Heute würde man Bismarck dafür einen Vollpfosten nennen.

Das passiert, wenn man alles Herren mit Bärten überlässt. Ihren gesteiften Hemdbrüsten, den gewichsten Schnurrbärten, den bunten Clownsuniformen mit den vielen Orden daran.

Zudem ist es peinlich. Allein der Gedanke daran!

Die Franzosen könnten uns verspotten, wir hätten nicht einmal einen heimischen Ort, den deutschen Kaiser zu krönen.

Es ist beschämend, forderte die Franzosen geradezu zur Revanche. Heute kann man in dem Raum frühstücken, in einem Hotel, wo das Deutsche Reich durch die Kapitu- lationsverhandlungen dort für seine Hybris 1871 und dann 1918 büßen durfte.

Bismarcks Untertanen später natürlich auch.

Die Herren mit den gewichsten Schnurrbärten und den Orden aber waren längst wieder zu ihrem Spiel zurückgekehrt.

 

***

 

Allein meine Mutter.

Selten war sie im Luftschutzkeller.

Blieb in der Wohnung.

Vater und die Kinder waren unten.

Oben war sie allein.

Mit sich und dem Schicksal.

Überlebe ich, sterbe ich.

Ihr war es fast egal. Beides barg einen Vorteil.

Weg von Allem.

Sie war wie der Belag in einem Sandwich, der von oben und unten Druck bekam, um schließlich auf dem Grill zu landen.

„Sterbe ich, überlebe ich“, dachte sie.

Ihr Mann und die Kinder, sie kämen schon durch.

Ohne sie.

Wenn die Flugzeuge kamen, empfand sie die wie böse Engel, die straften, weil die Welt es nicht anders wollte.

Böse Engel, die genau wussten, was sie taten, nach Plan. Planquadrat um Planquadrat.

Das Haus wurde nie getroffen. Alle überlebten.

Blieben verbunden in dem Gewölle aus Hass, Bespitzelung und Wut.

Sterbe ich, weil ich überlebe?

Sie überlebte.

In der Wohnung aber war sie wundersam allein.

 

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