Leseprobe Erlebte Geschichte und Geschichten, Wiesbadener Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen von Gesine Werner

Im „kulturellen Kleinod“ mit offener
Kommunikation den Zeitgeist reflektieren
Waltraut Ackermann
„Ich bin überall Zugezogene und war immer neugierig auf die anderen“, sagte Waltraut Ackermann. Die Diplom-Psychologin war mit ihrer ein Jahr älteren Schwester, der Ärztin Dr. Irmgard Ackermann, Gründerin und Motor eines traditionsreichen Bildungsprojekts mit nachhaltiger Wirkung: Das Wiesbadener „Erzähl-Café“ der Volkshochschule geht auf die Initiative der beiden Schwestern zurück.
„Unsere Generation hat – ungewollt oder nicht – viel Spannung im Leben gehabt. Doch wenn man so aufwächst wie wir, kann man nur ein guter Mensch werden.“ Der Zeitzeugin aus aufgeklärt freiheitlichem Elternhaus, das dem NS-Staat kritisch gegenüberstand, frühe Selbständigkeit förderte und Kontakt zu Widerstandsgruppen pflegte, wurde gesellschaftliches Engagement in die Wiege gelegt.
Waltraut Ackermann war nach dem Psychologie-Studium in Göttingen und Marburg, zweijährigem Island-Aufenthalt in den 50er Jahren – „um aus dem Trümmerland und dem verhunzten Hitlerdeutschland rauszukommen“ – sowie Stationen in Hochheim und am Niederrhein 1974 nach Wiesbaden gekommen. Im Sozialdezernat von Stadtrat Ernst-Alfred Reese baute sie die neue Beratungsstelle für selbstständiges Leben im Alter auf.
Noch im Beruf stehend und nach dem Ende ihrer beruflichen Laufbahn (ab 1985) erst recht, war freiwilliger Einsatz keine Frage. Die unermüdlich engagierte Zeitzeugin beteiligte sich ehrenamtlich am Aufbau der Schülerhilfe der Arbeiterwohlfahrt in der Wellritzstraße.   
Eine Sache der Ehre war für die Zeitzeugin auch die Mitwirkung am alternativen Fassenachtszug „Lalü” (locker, alternativ, lustvoll, übermütig). Der Ruf „Lalü Lala“ ersetzte das „Helau“ und nahm das „Tatü tata“ närrisch auf die Schippe. Lalü-Protagonist Wolfgang „Wolli“ Herber (1949-2013), später Lehrer und ehrenamtlicher Stadtrat, wurde anschließend im Vorstand der GFPK aktiv.
Für Auskünfte über die rührige Institution mit dem Kürzel GFPK ist die Zeitzeugin eine Quelle erster Güte. „Hintergründiges“ zur „Gesellschaft zur Förderung von Publizistik und Kommunikation“, aus der das „Erzähl-Café“ hervorging, klang so: „Es waren einmal – irgendwann Anfang der 80er Jahre – in Wiesbaden ein paar 68er, die alternativ denken konnten. Viele waren im öffentlichen Dienst tätig. Denen genügten die spezialisierten Alltags-Berufsarbeiten nicht und auch nicht die traditionellen Kulturangebote. Selbermachen hieß die Alternative – zwar laienhaft und unbürokratisch, doch engagiert und überzeugt und mit dem nötigen „Know-How“. Und sie gründeten sogar einen ordentlichen Verein mit Satzung und allem Drum und Dran. Also: Kein Club sollte es werden, sondern für die Öffentlichkeit sein, nicht nur für sich selbst, und die Mitglieder wollten etwas bewirken!“
Waltraut Ackermann schmunzelte bei der Erinnerung an den „chaotischen Haufen“ der Anfangszeit: „Ich finde es einfach spannend, was alles dabei herausgekommen ist.“
Die Meriten der GFPK können sich sehen lassen. „Sie brachte Leben in die Stadt. Und sie stellte immer wieder Neues auf die Beine.“ Das Selbstverständnis der GFPK war klar – „ebenso ernsthaft wie spielerisch“ wurde der Umgang mit der historischen, sozialen und ökologischen Umgebung gepflegt.
Die Gesellschaft stand ein „für einen ganzheitlichen Kulturbegriff, der die Sinnhaftigkeit unseres Daseins gewollt in eine Verbindung zu Sinnlichkeit und Lebensfreude stellt”. Es galt das Diktum: „Die GFPK reflektiert den Zeitgeist, läuft ihm aber nicht hinterher.“
Waltraut Ackermann legte die breite Palette dar. „Es gab multimedial angelegte Zyklen wie den zum Thema Urbanität. Im Herbst 1992 haben wir den ersten Politischen Salon durchgeführt zu den Maßverhältnissen des Politischen mit Professor Dr. Oskar Negt. Wir haben Kunst vor Ort besichtigt und Kunstreisen organisiert zu bedeutenden Ausstellungen wie der documenta IX in Kassel. Unser beliebtes Drachenfest fand am letzten Sonntag im September statt.“
Zu „Alternativen Stadtrundfahrten“ kamen „Alternative Spaziergänge“. Die GFPK-Sonntagsmatinee „Film und Frühstück“ in der Ifage-filmproduktion Unter den Eichen mauserte sich zum kultigen Treff. Cineastische Leckerbissen wie die Serie „Film noir“ wurden hier serviert. „In Kooperation mit anderen Einrichtungen wurden auch Filme zu deren Themenschwerpunkten gezeigt wie 500 Jahre Amerika der vhs Wiesbaden.“
Apropos Film: Nach ihrer Pensionierung im Jahr 1985 ging die Zeitzeugin selbst unter die Filmleute. Der Pädagoge Harald Kuntze hatte gerade die Initiative Wiesbadener Medienzentrum ins Leben gerufen und realisierte Filmprojekte zu geschichtlichen Themen mit Bürgerinnen und Bürgern in Wiesbaden.
„Bei der Videoproduktion des Medienzentrums mit der Lebens-Abend-Bewegung LAB und der Akademie für Ältere zum Thema Wiesbaden gestern und heute habe ich die Hochbrücke gemacht“, erinnerte sich Waltraut Ackermann. „Ältere Menschen filmen“ hieß das Projekt, das „altes Handwerk in Wiesbaden“ dokumentierte und auch das Anfertigen künstlicher Augen der Firma Müller-Uri in der Taunusstraße zeigte: „Ich habe am Drehbuch mitgearbeitet und im Tonstudio Texte eingesprochen.“
Ein weiterer Film – der „Wiesbadener Bilderbogen“ – zeigte „Ein bewegtes Leben“ und führte in die Galerie von Christa Moering (→ S. 149) in der Martinstraße, die zu dieser Zeit Werke von Bettina Mumm präsentierte. Christa Moering arbeitete gerade mit dem Pinsel in der Hand: „Es entstand eine Blume und Harald Kuntze brachte es fertig, die Künstlerin beim Malen zu filmen“ berichtete die Zeitzeugin.
Rückblende. Ein ganz besonderes Schmankerl der GFPK wurde dann 1991 aus der Taufe gehoben. Das „Erzähl-Café“ ging in der Beletage des historischen Cafés Maldaner im Herzen der Stadt an den Start. „Der erste Golfkrieg lag in der Luft und wir begannen unter diesem Eindruck mit Themen des Krieges und der Vertreibung. Wir hatten Betroffene eingeladen – aus der Hitler- und Kriegszeit, aus Chile und der Immigration hier aus Wiesbaden. Die Schilderung der Situation von Türkinnen, die Familien- und Wohnsituation in Saudi-Arabien und die asiatischen Volkseigenheiten im äußersten Osten der damaligen Sowjetunion waren ebenfalls Themen, die wir behandelt haben.“
Das Erzähl-Café im ersten Original Wiener Kaffeehaus Deutschlands in der Marktstraße war die Urzelle des Erfolgsmodells. „Das Café Maldaner wird am Samstagnachmittag, den 23. März 1991, zum Erzählcafé, ein gemütlicher Rahmen für ein ernstes Thema“, verkündete schwarz auf weiß die gedruckte Einladung. Die Schwestern Irmgard und Waltraut Ackermann hatten als erste Erzählerin eine Verwandte eingeladen, die Autorin Emilie „Mile“ Braach: „Wie erlebte ich den Krieg und die Nazizeit in Frankfurt am Main?“ lautete die titelgebende Frage. Die 93-jährige „nicht arische Bürgertochter“ hatte während der NS-Zeit ihre Eltern in Bad Homburg versteckt und war bis zur Befreiung durch die US-Truppen selbst untergetaucht. Mile Braach, die ihre Tochter schweren Herzens ins sichere England geschickt hatte, las aus ihrem Buch „Wenn meine Briefe Dich erreichen könnten“. Beim zweiten Erzähl-Café im Oktober erzählte mit Monica Gutierrez „eine Exilchilenin“ aus ihrem Leben.
Im November waren die „Velvets“ (→ S. 254) eingeladen und gaben in ihre eigene „Odyssee“ Einblick: „Schwarzes Theater zwischen Ost & West“ oder „Der Weg der Samtenen“. Zwölf Jahre später waren Bedrich Hánys und Dana Bufkova noch einmal zu Gast – diesmal im Museums-Café Jawlensky – und stellten fest „Das Leben ist ein Spiel“.
Die Zeitzeugin betonte die Fähigkeiten ihrer Schwester Irmgard, inter-essante Personen für das Erzähl-Café zu gewinnen: „Wir hatten oft Leute, die viel zu erzählen hatten, aber zurückhaltend waren und sich nicht drängten. Oft kamen in die Tiefe gehende Lebensgeschichten zur Sprache – und das Publikum ging mit.“  
Auch die „Altersfrage“ wurde auf den Punkt gebracht und das Verbinden der Generationen: „Wir wollten Jung und Alt zusammenbringen im gemütlichen Rahmen eines Cafés. Im Wiesbadener Erzähl-Café braucht man nicht aufs Rentenalter zu warten, um erzählen zu dürfen. In allen Generationen gibt es Interessantes und begabte Erzähler.“
Das GFPK-Projekt, das sich erfolgreich als Dauerbrenner in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt etablierte, ist in Sachen Domizil quer durch die Stadt „herumgekommen“ – nicht eben freiwillig.
Vom Premieren-Ort Café Maldaner ging es weiter in das Café Cicero auf der oberen Ebene der City-Passage, die inzwischen selbst ein Teil der Stadthistorie ist. Im Frühjahr 1999 stand der Umzug ins Caligari-Foyer an. Später bot das Café Jawlensky im Landesmuseum Wiesbaden Unterschlupf. Weitere Zwischenstation war das Café Blum, einmalige „Gastspiele“ führten zum Presseclub in die Villa Clementine und zur freireligiösen Gemeinde in der Rheinstraße, bevor das Erzähl-Café einzog in das Bistro der Volkhochschule, das mehrfach die gastronomische Leitung wechselte.
Zum Jahreswechsel 1997 löste sich die GFPK als Bürgerinitiative auf. „Es finden sich nicht genug tatkräftige Mitglieder für die Weiterarbeit an den Kulturlücken in Wiesbaden“, lautete die schlechte Nachricht im Oktober 1997. Die gute Nachricht lautete: „Das Erzähl-Café wird weiter stattfinden, in altgewohnter Weise.“ Seit Januar 1998 führt die Volkshochschule Wiesbaden das Erzähl-Café durch.
Immerhin war auf das Interesse der Öffentlichkeit durchgängig Verlass: „Das Publikum hält immer Schritt und geht beim Wandern gerne mit.“
Auch das Nachbarschaftshaus in Biebrich war eine Art von „Wanderstation“ oder Dependance. Mehrfach bot das Treffcafé dort die passende Kulisse für das Erzähl-Café, zu dem die GFPK gemeinsam mit „Kultur vor Ort“ und der Akademie für Ältere einlud. Hier erzählte der Lehrer und Kommunalpolitiker Kuno Hahn von „einer Jugend im Biebrich der Nachkriegszeit“. Der Schriftsteller Eugen-Hermann Friede war zu Gast mit seinen „Erinnerungen an Illegalität und Aufbegehren 1942-1948“. Aus der Türkei stammte Makbule Yaras, die als Ausländerbeirats-Vorsitzende Klartext sprach: „30 Jahre als Fremde in Deutschland leben.“
Warum überhaupt ein Erzähl-Café? „Erzählen ist ein Weg des Verstehens gegen das Verdrängen.“ Und schließlich ist auch das Publikum „bunt gemischt, jung und alt.“ Sicher – „niemand sagt, wieviel Arbeit das alles macht.“ Die Frage: „Warum machen Sie sich die Arbeit?“, lag auf der Hand. Die Antwort kam prompt: „Es macht einfach Spaß für Leute mit Ideen im Kopf, für Leute, die von der Erwerbsarbeit nicht aufgezehrt werden, die eine gesunde Existenz haben, deren Kinder inzwischen groß sind und die wild darauf versessen sind, in Gemeinschaft etwas Sinnvolles zu tun.“
Zum ersten „kleinen“ Jubiläum des fünfjährigen Bestehens lobte der damalige Kulturdezernent Peter J. Riedle (1943–2021) in seinem Grußwort die Bedeutung der „so wertvollen Veranstaltung für die Festigung der Identität unserer Stadt und ihrer Region“ und würdigte das „kulturelle Kleinod“.
Die Gästeliste des Erzähl-Cafés, das von der ersten Stunde an vom Kulturamt Wiesbaden unterstützt wird, geht als „Who is Who“ durch. „Durch Mitmenschlichkeit zum Frieden“ war der Tenor von Stadtverordnetenvorsteherin Angelika Thiels (1941–2009). Autor Konrad Gruda (1915–2012) stellte russische und sowjetische Satire vor. Der frühere Oberbürgermeister Rudi Schmitt blickte auf seine „schönsten Jahre“ als Stadtvater zurück. Stadtkämmerer Dietrich Oedekoven erzählte als Gutsbauernbub aus Euskirchen, wie er „vom Bauernhof in den Magistrat Wiesbaden“ kam. Stadtplanungsamtsleiter Edgar Heydock sprach über „Architektur – das Echo der Gesellschaft“. Der frühere hr-Chefredakteur Wilhelm von Sternburg und ZDF-Redakteur Dieter Zimmer sowie die Malerin Christa Moering folgten auch gerne der Einladung. „Manche Personen waren mehrfach zu Gast im Erzähl-Café“, freute sich Zeitzeugin Ackermann. Der Jurist Dr. Rolf Faber erzählte, wie er „Thüringen auf dem Weg zum Rechtsstaat“ begleitet hat und begab sich als Heimathistoriker bei seinem zweiten Besuch auf die Spuren des jüdischen Gelehrten Dr. Seligmann Baer. Mit Hans Fischer gab sogar ein „Ersatz-Christus“ mit Augenzwinkern im Erzähl-Café seine Visitenkarte ab. Rechtsanwalt Fischer legte als „ein Wiesbadener Hippie aus gutem Hause“ Zeugnis ab von den ach so wilden 70er Jahren. Und er konnte von seiner Zeit als langhaariger Rockmusiker der Wiesbadener Band „Xhol“ berichten.
Ein ganz besonderer Nachmittag ging unter dem Titel „15 Jahre Erzähl-Café“ am 12. November 2005 über die Bühne. Zum Jubiläum berichteten erstmals zwei Personen aus ihrem bewegten Leben. Zu den Erzähl-Café-Gründerinnen Dr. Irmgard Ackermann und Waltraut Ackermann hatte sich vhs-Direktor Hartmut Boger als Moderator zugesellt. Unter dem Titel: „Unsere Wurzeln in den 20er Jahren ...“ machten die Schwestern keinen Hehl daraus, „wie verschiedene Erlebnisse in der Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg bleibende Eindrücke hinterließen“. Neben der Überzeugung „Nie wieder Krieg!“ waren Bauhaus-Atmosphäre und „die absolute Offenheit der Eltern“ wichtige Stichpunkte. Die Zeitspanne 1933 bis 1945 warf als „die Katastrophe“ die Frage auf: „Was macht man?“
Lehrertochter Waltraut Ackermann, wie ihre ein Jahr ältere Schwester Irmgard im thüringischen Greiz geboren, in Berlin-Tegel aufgewachsen und während der NS-Zeit mehrfachem Orts- und Schulwechsel ausgesetzt, baute 1943 ihr Abitur in Coburg. Sie war arbeitsdienstverpflichtet in Nürnberg und traf bei Fliegeralarm im Luftschutzkeller auf Zwangsarbeiterinnen aus Polen und Frankreich. „Die Frauen schwärmten vom hellen Paris.“ Die Befreiung erlebte die Zeitzeugin in Freiburg im Breisgau.
Vater Walter Ackermann, promovierter Physiker und Mathematiker, war Assistent des Soziologen Franz Oppenheimer, ging soziale Unterschiede offensiv an und setzte sich für unterprivilegierte Kinder ein. Die Mutter stand als Sekretärin dem Bauhaus nahe. „Das Vertrauen in den Einzelnen, das mir durch meine Eltern gegeben wurde, ist der Treibstoff, mich bis heute für andere Menschen zu engagieren.“ Diese Feststellung ihrer 2006 verstorbenen Schwester Irmgard könnte ebenso gut ein Zitat von Waltraut Ackermann sein.
Das Erzähl-Café steht für Klartext und die Eingeladenen bilden ein Panorama menschlichen Lebens ab. Unter dem Titel: „Das Mühltal, der Schlachthof, die Stele ... und ich“ nahm Kulturstadtrat Peter J. Riedle im Café Cicero kein Blatt vor den Mund. Der frühere Schulleiter wollte „anstoßen, ohne anstößig zu sein“. Die ehemaligen Intendanten des Staatstheaters Wiesbaden Christoph Groszer und Claus Leininger blickten hinter die Kulissen „der Bretter, die die Welt bedeuten“ und faszinierten mit dem Zauber ihres reichhaltigen Erfahrungsschatzes.
Amtskollegin Elisabeth Trepte (1929-2001), Intendantin am Theater Quedlinburg, war zweimal zu Gast – aus ganz bestimmtem Grunde. Beim ersten Termin wusste sie von „einem Leben in der DDR“ zu erzählen und konnte mit einem speziellen Wiesbaden-Bezug aufwarten. Elisabeth Trepte war nämlich mit dem Autor und Malik-Verleger Wieland Herzfelde (1896-1988) ab 1952 über Jahrzehnte hinweg befreundet. Wieland Herzfelde hatte mit seinem Bruder Helmut Schulzeit und Jugend bei seiner Tante Helene Heuss (Buchhandlung Heuss) in Wiesbaden verbracht. Helmut absolvierte seine Buchhändlerlehre bei Onkel Heuss und wurde später als Dadaist John Heartfield bekannt. Zum 10. Todestag von Wieland Herzfelde, der als Nachhilfelehrer in der Söhnlein-Villa tätig war, erzählte die Berlinerin Trepte spannende Anekdoten „aus dem Leben des fröhlichen Waisenknaben“. Als Moderator fungierte Bildungsplaner Klaus Bothe, Vorstandsmitglied der GFPK. Der Titel ihres zweiten Erzähl-Cafés ist ein Herzfelde-Zitat: „Manchmal schwer und gefährlich, aber sinnvoll und also ein schönes Leben!“
Wieland Herzfeldes Sohn Georg Wyland Herzfelde erzählte zum 100. Geburtstag seines Vaters im Café Cicero über den Verleger von Exil-Literatur. Ein Enkel von John Heartfield hat Waltraut Ackermann privat besucht.
Eine spezielle Form „nachhaltiger“ Wirkung hat die Gründerin des Langzeit-Projekts mit Freude erfüllt: „Elisabeths Treptes Berichte im Erzähl-Café waren die Initialzündung des Gedenksteines für die Brüder Wieland Herzfelde und John Heartfield, geboren als Helmut Herzfelde, der von der GFPK in der Reisinger-Anlage errichtet wurde.“

 

Ausflüge nach Absurdistan mit Unerhörtem für Stielaugen und Ungesehenem für gespitzte Ohren  
Ben Patterson
„Fluxus ist wie ein großes Schiff, mit dem man einen schönen Ausflug macht.“ Ben Patterson muss es ja wissen. Käpt’n Ben machte auf seinen Schiffstouren immer Station in Absurdistan, um den Landratten Unerhörtes für Stielaugen & Ungesehenes für gespitzte Ohren zu offerieren.
Ein Amerikaner in Wiesbaden. Ben P. als Wahlwiesbadener? „Der Täter kehrt an den Tat-Ort zurück.“ Der Weitgereiste bekannte sich mit breitem Schmunzeln zur „homebase“ in der hessischen Landeshauptstadt, die so praktisch mitten im Rhein-Main-Gebiet und in Flughafennähe gelegen ist. Nicht zufällig hatte sich der Avantgardist für sein „Home of Fluxus“ das Westend als farbigsten Kiez der Stadt ausgesucht. Passte perfekt zur interdisziplinären Kunst, die in ihrer intermedialen Breite der Zeit weit voraus war: „Als Fluxus 1962 die Bühne in Wiesbaden besetzte, gab es den Begriff Performancekunst noch nicht.“ Gerade mal 50 Jahre später ist Performancekunst Unterrichtsfach an Kunstschulen und Fakultät an Kunstakademien rund um den Globus, amüsierte sich der Altmeister des subtil ironischen Humors. Seine „Selbstinterviews“ macht ihm so schnell niemand nach.
Rückblende: „Neue Musik“ war gestern, hieß es 1962 bei ein paar Jungen Wilden, die nicht dem Existentialismus frönten. Die wollten nur spielen. Daraus wurde dann „eine kleine Nachtmusik“ mal anders mit martialischen „Piano Activities“. Der Clou: „Ich denke, ich habe die Originalpartitur von Phil Corner nie gesehen“, bekannte Ben Patterson.  
Der studierte Kontrabassist war von New York nach Frankfurt gekommen, besuchte Joe Jones in Wiesbaden-Erbenheim und lernte über Emmett Williams, Redakteur der Militärzeitung „Stars and Stripes“, den Litauer George Maciunas kennen, der auf der Airbase Erbenheim stationiert war. Graphiker Maciunas sah sich als in der Wolle gefärbter Künstler und plante die Zeitschrift „Fluxus“, litauisch „Freiheit“. 1962 wurde er Urvater der intermediären Kunstbewegung. Es scheint, „dass Fluxus am Anfang vom Militär der Vereinigten Staaten gesponsert wurde. Unser größter Gönner war das Militär“, amüsierte sich Ben Patterson.   
Auf dem inzwischen legendären Plakat war zu lesen: „Fluxus – Eine internationale Zeitschrift Neuester Kunst, Antikunst, Musik, Antimusik, Dichtung, Antidichtung etc.“ Die Herren Künstler waren in feinen Zwirn gewandet und enterten munter die Bühne im altehrwürdigen „Städtischen Museum Wiesbaden“. Hammer und Säge, Steine und ein Kuhfuss waren ihre feinsinnigen „Instrumente“. Dann gingen die Fluxus Festspiele Neuester Musik als buchstäblich „unerhörte“ Provokation über die Bühne der heiligen Hallen. Der Vortragssaal des Museums wurde zur Geburtsstätte und Keimzelle der weltweit anarchischen Kunst. Ein Violonist am Staatsorchester Wiesbaden war „not amused“ und kratzte mit einem Pfeifenreiniger das kultverdächtige „Die Irren sind los“ auf das Plakat vor dem Museum. 50 Jahre später bekannte sich der Geiger zu dieser Protestaktion.
Fluxus bot sogar eine Steilvorlage für das „närrische“ Wiesbaden. Der Fassenachtszug 1963 zeigte einen Wagen, auf dem tapfere Mannen mit einer immensen Säge ein Piano halbieren.      
Ein halbes Jahrhundert nach dem weltweit ersten „Festum Fluxorum“ war die Wahlheimat von Ben P. frei von „Wahrnehmungs-Hindernissen“ und der Zeitzeuge sah sich von Dr. Alexander Klar, Direktor des Landesmuseums Wiesbaden, zum „Godfather of Fluxus“ gekürt. Anno 2012 war der Bachelor of Art in Musik und Master in Bibliothekswissenschaften, von 1972 bis 1974 Vize-Kulturkommissar für Kultur der Stadt New York, Kulturmanager und mit vielen Wassern gewaschen, Spiritus rector des Gold-Jubiläums in Wiesbaden. Die Devise „Occupied by Fluxus“ galt allüberall. Auf der Wilhelmstraße lud Ben P. auf der Strecke vom Museum zum Nassauischen Kunstverein (NKV) open air zum Identical-Lunch ein nach Alison Knowles. Chefkuratorin Valerie Cassel Oliver vom Contemporary Arts Museum Houston war persönlich mit von der Partie. Rund um das Landesmuseum mit Fluxus-Pavillon und großer Schau im Gebäude sowie im NKV, der von Ben P. auf allen Ebenen in Szene gesetzt war samt Patterson-Spielraum, ging es rund mit Überraschungsgästen. Schirmherr der Retrospektive im Happening-Modus war Kevin Milas, US-Generalkonsul in Frankfurt.
Im „Fluxusjahr“ 2012 war die Geburtsstadt komplett „im Flux“. Ben Patterson als Mann der ersten Stunde wurde der „Kulturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden“ zuteil, was er im Zug auf dem Weg nach Genua per Telefon erfuhr. Die Würdigung war ihm zuvor nicht wirklich bekannt.
Wer zuletzt lacht ... „The times have changed.“ Schmunzelnd erinnerte Ben P. im Gespräch an kommunale Querelen, die 50 Jahren zuvor einen Bürgermeister fast das Amt gekostet hätten. „Heute bekomme ich dafür den Kulturpreis.“ Im Rathaus der Landeshauptstadt wurde dem „Grandseigneur der Avantgarde“, dieser Ehrentitel feierlich verliehen. Der Preisträger wartete mit einer Überraschung auf und definierte sein Leben in der Wahlheimat Wiesbaden erstmals öffentlich als „back to the roots“. Im Rheingau sei seine Urahnin mütterlicherseits geboren – sie stammte vermutlich aus Rüdesheim, hatte er herausgefunden.
Natürlich waren die 1962er Festspiele Neuester Musik „viel mehr als eine Klavierzertrümmerung“, auch wenn im Jubiläumsjahr „jeder ein Klavier zertrümmern wollte, in Mannheim, Wien und Wiesbaden.“ Einst mischten sie erst das beschauliche Wiesbaden auf und dann die globale Kunstwelt. „Jetzt sind wir selbst Establishment!“ Die „Fluxus-Gala“ setzte noch einen drauf. „Jetzt kommt das, worauf Sie 50 Jahre gewartet haben!“ grinste „Zeremonienmeister“ Ben P. im prall vollen Museumssaal. Dann rückte er mit den quietschfidelen Anarcho-Oldies Phil Corner – „ich war vor 50 Jahren Gott sei Dank nicht dabei“ – und Eric Anderson, Willem de Ridder, Geoffrey Hendricks und „bad girl“ Alison Knowles einem alten Konzertgeflügel mit schwerem Gerät zu Leibe. „Piano Activities 2012“ eben. Und Bens „Paper Piece“ war die „Sinnsation“ pur. Das Publikum spielte hemmungslos mit, war total aufgekratzt und amüsierte sich wie Bolle.
Man(n) gönnt sich ja sonst nix. Zum 75. Wiegenfest hatte der Avantgardist mit Keith Rowe und Rhodri Davis als „a bunch of older bad boys“ dem Publikum im NKV ein fluxives Concerto der Spitzenklasse beschert. Und gemeinsam mit dem renommierten Harfenisten Davis kredenzte Ben P. als Finale der Goldenen Jubiläumsfestspiele im September 2012 im Caligari zu original Fluxusfilms 1966 Augen-Klänge und Ohren-Bilder. Die beiden freien Radikalen zelebrierten ein phantastisches Concerto zu stummen Shorties von Yoko Ono, Maciunas & Co. und ließen in gekonnter Dramatik die Stille ihren meditativen Charme entfalten. Augenscheinlich „unkaputtbar“, rundete Ben P. im Wonnemonat Mai 2014 auf zarte 80 Lenze auf und wurde gebührend gefeiert im NKV. Hier ist seit 2007 sein Environment „Ben’s Bar – Why people attend Bars: To Be Seen, To Be Heard, To Be There als Dauerleihgabe permanent installiert. Der Künstler konnte auch Botticelli und hatte 1990 für die New Yorker Gruppenschau Fluxus Closing In das Enviroment mit Objekten der New Yorker Canal Street kreiert. Als „Re-Inkarnation“ holte Ben P. seine Installation aus dem Lagerhaus in Soho nach Wiesbaden zum Jubiläum „40 Jahre Fluxus und die Folgen”.    
Zum 80. Wiegenfest richtete der NKV Ben P. eine zünftige Celebration aus mit „großem Bahnhof“, tönender Geburtstagstorte, überraschenden Performances. Ehrengast war Jeffrey M. Hill vom US-Generalkonsulat Frankfurt.
Sich selbst hatte der Protagonist des bahnbrechenden internationalen Netzwerks eine mobile „Dr. Ben’s Fluxus Medicine Show“ gegönnt. „Ich wollte noch mal zum Fuji San, das hatte ich ihm vor zehn Jahren versprochen.“ Seine „80th Birthday Tour“ atmete einen Hauch von „Fluxus da capo 1992“. Subversiven Mediziner-Charme hatte schließlich schon die „Clinic“ von „Dr. Ben”. Im Obergeschoss der Villa Clementine bekam damals „alles“ eine Diagnose und wurde mit Fluxus behandelt. Auf seiner Jubiläums-Tour, die ihn an wichtige Stationen der künstlerischen Vita und – wie zum 70. Geburtstag – auf den Fuji San führte, zog der wandernde Wunderheiler durch die Lande. Sein Wundermittel war Quellwasser aus dem Brunnen des Museums Wiesbaden (!), das von Medizinmann Ben mit „akustischen Frequenzen“ bestrahlt worden war. „Leidende“ befreite das Wasser von mentalen Blockaden gegen über zeitgenössischer Kunst.
Ehre, wem Ehre gebührt, war 2010 die Devise. Das Contemporary Arts Museum Houston/Texas ließ sich nicht lumpen und würdigte den Fluxus-Pionier mit der Retrospektive Ben Patterson 1960 – 2010. Die großformatig angelegte Ausstellung gastierte 2011 im Studio Museum Harlem, New York. Die Schau konnte auf einen besonderen „Besucher“ verweisen. Barack Obama begann hier seinen Wahlkampf zur zweiten Amtsperiode als US-Präsident. Unter dem Titel „Benjamin Patterson: Born in the State of FLUX/us“ bespielte die große Retrospektive dann 2012 alle drei Etagen des NKV. Versteht sich von selbst: Aus einem „Beweisfoto“ mit Barack Obama hatte Ben P. im NKV-Treppenhaus ein fluxistisches Kunstwerk gemacht. In den US-Nationalfarben war auf der Wand zu lesen: „Der Präsident stiehlt mir die Show“.  
Seit dem furiosen Jubiläumsjahr gehört die interaktive Patterson-Installation „Blame it on Pittsburgh“ zum Sammlungsbestand im Museum Wiesbaden. Auf Plexiglastafeln bilden Fotos, Dokumente und Protokolle aus 20 Psychoanalyse-Sitzungen eine berührende Collage. Im abgedunkelten Raum lässt sich die Künstler-Vita mit Hintergründen von Rassendiskriminierung und politischen Unruhen nur mit einer Taschenlampe „erhellen“.
Keineswegs zufällig ist Zeitzeuge Patterson Erfinder und Kurator des weltweit einzigartigen „Museums für das Unterbewusstsein”. Dessen Eingang liegt auf dem Michelsberg – nicht in Wiesbaden, sondern in Okandukaseibe, Namibia. Im Juli 1999 weihte Ben Patterson eine Museums-Filiale am Strand von Tel Aviv ein. „Heavens Gate“ wurde interaktiv beim Wort genommen an der geschichtsträchtigen „Jerusalem Beach“.
Seit dem Goldenen Fluxusjubiläum haben Aquae Mattiacorum als europäische Filiale einen Zugang zu diesem „tiefenwirksamen Museum“. Alles fließt. Die Niederlassung vor dem NKV wird vom Salzbach-Kanal unterspült und ist treffend gewählt – die Kupferplatte ist eine Reinkarnation des früheren Gullydeckels. „Negative Menschen denken: Den Abfluss heruntergespült und weg! Aber ich denke: In den Rhein und von dort aus in die Welt.“
Gründungsdirektor Patterson schrieb als „Grundrechte“ die unantastbare „Würde des Unterbewusstseins“ und „das Recht auf freie Meinungsäußerung“ fest. Benehmen muss sich das gespendete Unbe- wusste schon, sonst fliegt es raus aus dem Museum. Ordnung muss sein.
Auf seiner Geburtstagstour 2014 kamen noch zwei Filialen im Museum of Contemporary Art Tokyo / Japan und in der Fondation du doute, Blois/Frankreich dazu.   
Fluxus ist immer aktuell. Alles fließt ... Mit Ben Patterson gesprochen: „In the beginning there was fluxus (and no copyright), thus: In the end there will be fluxus (and no copyright)“.

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